Von Dr. Krafft Ehricke
Wir veröffentlichen im folgenden Auszüge aus der letzten Rede Krafft Ehrickes, die dieser am 30. Oktober 1984 vor den Teilnehmern eines mehrtägigen Symposiums der NASA mit dem Thema „Mondbasen und Raumfahrtaktivitäten im 21. Jahrhundert” gehalten hat. Ehrickes Rede, der ein ganzer Abend gewidmet wurde, war einer der Höhepunkte des Symposiums.
Als sich in den sechziger Jahren eine teils emotionale, teils sehr feindselige Diskussion um die Bedeutung der Raumfahrt, insbesondere um die Bedeutung des Apollogramms, entfaltete und Erklärungen wie „Ein Quadratzentimeter auf der Erde ist wichtiger als ein Quadratkilometer auf dem Mond“ kursierten, begriffen diejenigen unter uns, die damals in der Raumfahrt tätig waren und diese nicht als bloßen Auswuchs der amerikanisch-sowjetischen ideologischen Auseinandersetzung ansahen, daß wir deshalb in den Weltraum gehen, weil dieser Quadratzentimeter auf der Erde dermaßen wichtig ist, weil, langfristig gesehen, der größte Verbündete des Umweltschützers hier auf der Erde der Raumfahrtingenieur ist. Denn er zeigt den Weg zu einer neuen, offenen Welt.
In einer offenen Welt ist es nicht erforderlich, daß wir die Elemente einer Welt zerstören, die im Hinblick auf die Art und Weise, wie wir Menschen arbeiten, die Eigenschaften einer geschlossenen Welt angenommen hat. Bei der menschlichen Tätigkeit handelt es sich um eine Art Metabolismus – ich nenne ihn Informationsmetabolismus -, bei dem das Gehirn das vollführt, was in der biotechnologischen Sphäre, von der Pflanze über das Tier zum Menschen, der Körper oder die Körper tun. Wir nehmen Informationen auf; wir zerlegen sie, durch Abstraktion und Verallgemeinerung, durch die Entdeckung der Naturgesetze, in seine grundlegenden Elemente und bauen sie wieder in einer Form auf, die in unseren Gehirnen und in den Maschinen, die wir entwerfen, gespeichert werden kann. Dies ist eine neue Art der Wechselwirkung mit der Umgebung, der Wechselwirkung des Lebens mit der anorganischen Umwelt.
Auf der ersten Erde, im Licht der jungen Sonne, existierte keinerlei Kontrolle über die Erzeugung anorganischer Materie. Die Erde war wie eine gigantische Blume, welche Sonnenenergie aufsaugte und andere Energien benutzte, um grundlegende organische Verbindungen und Aminosäuren zu schaffen. Als sich das Leben zu regen begann, lebte es von diesen fossilen Säuren – Haldanes berühmter Ursuppe, die sich selbst verzehrte -, und natürlich gingen die Ressourcen schließlich ihrem Ende entgegen. Die erste große Krise des Lebens auf diesem Planeten trat ein, denn die Lebensformen ernährten sich von den zuvor erzeugten organischen Substanzen und schließlich voneinander, heterotrophen Zellen – die Vorläufer der Tiere – von den autotrophen Zellen, den Vorläufern der Pflanze.
Zu jener Zeit konnten wir zum ersten Mal zweierlei Dinge beobachten: Das, was als absolute Grenze des Wachstums erschien, war kein Grenze, sondern ein Hindernis, das überwunden werden mußte und durch technologischen Fortschritt überwunden wurde – durch den unglaublichen technologischen Fortschritt der Photosynthese. Zweitens sahen wir, daß sich das Leben, wenn es von Dauer sein soll, nicht auf die vorangegangene Erzeugung von Materie verlassen kann…
Die erste industrielle Revolution
Der technologische Fortschritt bestand in der Erzeugung eines Enzyms im Autotrophen, das schließlich, um es kurz zu machen, zum Chlorophyllmolekül führte. Das Chlorophyllmolekül und die Photosynthese brachten die erste industrielle Revolution auf unserem Planeten.
Hinter dieser Revolution stand die Einsicht, die auch wir heute haben – nämlich, daß das Leben nicht vollständig planetogen sein kann, sondern sich auf Ressourcen des Weltraums stützen muß. Es wandte sich der Sonne zu; da die biologische Technologie nicht imstande ist, selbst in den Raum zu gelangen, nahm sie die Form von Ressource, die zur Erde kam – Sonnenstrahlung.
So wurde die Sonnenstrahlung neben Wasser, Land und Luft zum vierten Element der Umwelt des Lebens, und mit der Photosynthese schuf sich das Leben die Kontrolle über die grundlegenden Güter des Lebens. Es entstand aus primordialer Materie – CO2 und Wasser – und verwandelte Sonnenstrahlung in chemische Energie. Damit entstand die Basis, auf der alles beruhte, einschließlich des parasitären Sauerstoffmetabolismus, der den einzigen knappen primordialen Rohstoff, das CO2, wieder auffüllte.
Im Schoße der so entstandenen negentropischen Biosphäre – ein höchst komplexes System ökologischer Nischen, das einen ganzen Planeten umspannte, industrialisierte und dessen Energien und Rohstoffe verarbeitete – trat dann der Mensch als Träger des nächsthöheren Metabolismus auf den Plan.
Jede Umweltsphäre, die hier planetare, dort subplanetare Ausmaße annehmen kann, muß über einen Umbilikal- oder Nabelschnurmetabolismus verfügen, der die Verbindung zwischen der negentropischen Sphäre und der äußeren entropischen Wildnis darstellt. In diesem Fall war es natürlich die Photosynthese. Der Sauerstoffmetabolismus ist kein Umbilikalmetabolismus; er ist parasitär – er frißt andere Tiere und verbraucht Pflanzen. Tiere und Menschen, die in dieser Hinsicht gleich sind, basieren auf dem Nabelschnurmetabolismus der Photosynthese.
Der Mensch ist weniger eine Abkömmling des Affen, sondern vielmehr der Photosynthese, denn der Informationsmetabolismus ist der erste Metabolismus, der mit der anorganischen Materie wirklich in Wechselwirkung treten kann. Deshalb ist er ein Umbilikalmetabolismus, und zwar in größerem Maß als die Photosynthese: Wir können eine riesige chemische Industrie aufbauen, wir können mit Kernmaterie in Wechselwirkung treten und werden, dessen bin ich sicher, im nächsten Jahrhundert eine Nuklearindustrie großen Umfangs und eine subatomare Industrie aufbauen. Dies geht weit über die Photosynthese hinaus.
Aus diesen und anderen Gründen transzendiert der Informationsmetabolismus planetare Begrenzungen. Es ist dieser Metabolismus, über den das Leben nun selbst in den Weltraum gelangt.
Bereits vor drei oder vier Milliarden Jahren mußte das Leben mit der Photosynthese nach außerirdischen Ressourcen greifen. Es benötigte eine offene Welt. Aus physikalischen Gründen kann kein Motor in einer geschlossenen Umgebung laufen, ebensowenig wie die Maschinen des Lebens. Wir müssen über eine offene Welt verfügen – die ökologischen Nischen der ersten Erde, die Biosphäre der zweiten Erde und die Androsphäre der dritten Erde. Ebenso wie die Biosphäre durch das Chlorophyllmolekül und die Photosynthese kontrolliert wird, so bestimmen menschliches Gehirn und Informationsmetabolismus die Androsphäre. Doch gibt es zwischen beiden einen großen Unterschied: Die Biosphäre ist integriert und nicht-modular aufgebaut – das heißt, alles bewegt sich durch alles hindurch. Substanzen bewegen sich durch das Wasser, durch die Erde, durch die Luft, und dies ist notwendig, damit die Biotechnologie arbeiten kann. Für die Technologie des Informationsmetabolismus – etwa die chemische oder die nukleare Technologie – ist dies jedoch nicht geeignet, denn während die biosphärische Technologie etwa 20 bis 25 Elemente in einem Kreislauf nutzt, greift die informationsmetabolische Technologie auf alle Elemente des periodischen Systems zurück, die nur bedingt rezirkuliert werden können…
Die Androsphäre ist integriert, aber modularisiert, und genau dies ist für die Technologie des Menschen, des Informationsmetabolismus, erforderlich. Was auf dem Mond, dem Mars oder im Orbit passiert, beeinflußt nicht notwendigerweise das, was auf der Erde vor sich geht. Auf dem Mond können wir eine Selenosphäre errichten, in der wir von vornherein modulare Bedingungen vorfinden: Große Wohnsiedlungen sind umgeben vom Vakuum, das auch die Kernkraftwerke und Industriebetriebe umgibt, und das, was in dem einen Bereich passiert, gelangt nicht automatisch in den anderen. Diese Modularisierung, die mit der Selenosphäre beginnt und ebenfalls für Raumstationen gelten wird, ist von großer Bedeutung. Sie ist der Schritt von der Erde bzw. über die Erde, die in hohem Maße biosphärisch ist, hinaus zu Umwelten, die vor allem technosphärisch sind – wie die Umwelt des Mondes oder des erdnahen Weltraums. Wir passen die neue Umwelt den Erfordernissen der androsphärischen, informationsmetabolischen Technologie an.
Die Entwicklung der Soziosphäre
Die Entwicklung der Soziosphäre weist zwei Analogien zur technosphärischen Entwicklung des Lebens auf, deren Hauptschritte wir soeben erklärten. In der Biosphäre finden wir die Arten; in der Androsphäre sind dies die Zivilisationen. Wir betrachten uns primär als Menschen, ob wir uns nun nach Hautfarbe oder anderen Dingen unterscheiden. Aber unsere Zivilisationen sind verschieden; wir gehen an verschiedene Dinge in deutlich unterschiedener Weise heran. Jeder, der in dieser Welt lebt, weiß dies genau.
Aber Zivilisation bedeutet mehr: Sie steht für das Überkommen der Brutalität, für eine Überlegenheit jenseits der Anerkennung der Pluralität, der Anerkennung, daß es verschiedene Weisen des Lebens und der Erforschung der Natur gibt. Sie steht für die Erkenntnis, daß es Naturgesetze gibt, die von allen anerkannt werden müssen – wir verstoßen gegen sie auf eigene Gefahr. Zivilisationen werden weiterhin entstehen, da sie von bestimmten Infrastrukturelementen abhängen, und wenn wir uns Bevölkerungen auf dem Mond und später auf dem Mars vorstellen, so werden sich diese von uns unterscheiden.
Solange wir über eine offene Welt verfügen, solange wir nicht davor zurückweichen, die Probleme, die wir durch Technologie und unsere eigene Entwicklung haben, zu überwinden, solange ist fortwährendes Wachstum sichergestellt. Eines aber möchte ich betonen: Technologie ist nicht die Lösung für unsere eigenen Unzulänglichkeiten; hierzu müssen wir wachsen und reifen. Aber Technologie kann die Aufgabe erleichtern. Man mag über eine erhabene Philosophie verfügen, doch geht man ins Mittelalter zurück, dann entsteht eine Umwelt, in der all das, was man vom Menschen verlangt – mit weniger leben und sehr bescheiden zu sein, dies zu tun oder das zu sein -, unmöglich ist, denn unter diesen Bedingungen wird es nur noch den Kampf ums nackte Überleben geben, in dem ein jeder den anderen frißt.
Wir müssen vorwärts gehen, und das Leben zeigt uns, daß es die Straße des technologischen Fortschritts ist, die wir nehmen müssen. Doch auf der Basis des technologischen Fortschritts müssen Fortschritte in der Entwicklung der menschlichen Gattung und der Zivilisation folgen. Gelingt uns dies, dann können wir weitergehen.
Industrialisierung und Zivilisation im Weltraum
Ende der sechziger Jahre gelangte ich zu dem Schluß, daß es bei der Eroberung des Weltraums drei logische Schritte gibt. Der eine ist die Industrialisierung. Diese steht an führender Stelle, obwohl ich natürlich sagen muß, daß die Erforschung den notwendigen ersten Schritt bildet. Doch danach kommt die Industrialisierung, die Fähigkeit, produktiv in einer neuen Umwelt zu leben, als Grundlage der Zivilisation (Abbildung 1). Wir können nicht zuerst mit den Menschen hinaus in den Raum gehen und dann fragen: „Was zum Teufel machen wir jetzt?“ Wir benötigen eine produktive Basis als Garant der zivilisatorischen Entwicklung.
Zivilisation geht stets einher mit der Urbanisierung, der Entwicklung von Städten. Die Urbanisierung gibt einer großen Zahl von Menschen die Möglichkeit, in der neuen Umwelt zu leben und sich durch die neue Umwelt zu verändern. Und dies bringt Veränderungen, die weg von der Erde führen.
Der Prozeß der Extraterrestrialisierung ist die Veränderung des Menschen durch die verschiedenen Bedingungen der neuen Umwelt. Dies liegt mir besonders am Herzen, da ich auf die Erfahrungen meiner „Extra-Europäisierung“ zurückblicken kann. Ich erhielt eine europäische Bildung; eine klassische Bildung, eine Bildung, die von dem Glauben ausging, daß Europa die Mutter der modernen Zivilisation ist. Europa hatte seine eigene Art und seine eigene Philosophie. Europa hatte seinen eigenen Glauben an sich selbst, der durch zwei Weltkriege zerstört wurde, aber es hatte diesen Glauben und hat ihn zum Teil noch heute. Dann kam ich in die Vereinigten Staaten. Meine Frau und ich standen einer anderen Umwelt gegenüber; wir mußten eine andere Geschichte lernen und eine andere Art von Menschen, die früher einmal aus Europa ausgewandert waren und nun einen besonderen Typ von Unternehmern, Abenteurern, von Erforschern neuer Grenzen und neuer Revolutionen bildeten, der in Europa weniger häufig war. Dann sahen wir, wie unsere Kinder aufwuchsen und sich amerikanisierten, und wir erlebten, wie unsere Enkel vollständig als Amerikaner aufwuchsen.
Abb. 2: „Winter in Selenopolis“ – künstlerische Darstellung einer Stadt auf dem Mond.
Wir haben also eine Umstellung, und wenn wir uns vorstellen, daß eines Tages Menschen auf dem Mond leben werden, so wird dies dort noch stärker der Fall sein (Abbildung 2). Denn zuallererst haben wir Unterschiede – wir haben ein Sechstel der Erdschwerkraft, wir haben alle möglichen anderen Bedingungen dort, so daß futuristische Veränderungen zu erwarten sind. Zweifellos wird es ebenfalls immunologische Änderungen geben. Die Erde wimmelt von Leben. Wir werden eine immunologische Kontrolle, eine Art immunologisches „Ellis Island“ auf dem Mond haben. Nicht jeder mit Tuberkulose, mit Husten und Schnupfen oder mit diesem oder jenen wird wahrscheinlich die Hauptsiedlung besuchen können. Es mag Gästequartiere geben, die aufgrund der modularen Selenosphäre voller Bakterien sein können, die ansonsten auf dem Mond nicht existieren. Menschen, die direkt auf dem Mond leben, mögen immunologische Veränderungen erfahren.
Sozioökonomische Veränderungen – auf der Erde war die Biosphäre zuerst da. Jedes Lebewesen hier wurde mit einem biologischen Silberlöffel im Mund geboren und benahm sich entsprechend, zerstörte und verwüstete, und Mutter Natur räumt hinter uns auf, wie das Hausmädchen in einem reichen Haushalt. Aber dort, auf dem Mond, ist der Mensch zuerst da, und die Biosphäre folgt ihm nach. Dies wird viele Wertvorstellungen verändern.
Verhaltensänderungen, ästhetische, psychologische und kulturelle Veränderungen werden folgen. Derartige Unterschiede sind die ersten einer Folge auseinanderstrebender Entwicklungen der menschlichen Evolution, wie wir sie vor 500.000 Jahren feststellen konnten, als sich die Anatomie und die Funktion des Gehirns von Mensch und Tier auseinanderentwickelten. Hier haben wir einen Bereich, der für Soziologen vieler Generationen unglaublich interessant sein und sehr starke Rückwirkungen hier auf der Erde haben wird, ebenso wie Amerika nachhaltig auf Europa einwirkte.
Doch nun zum dritten Punkt. Lassen Sie mich auf den Mond gehen, dem Mond als ganzen, im Gegensatz zu anderen Himmelskörpern.
Der Mond – der erste Schritt aus der Biosphäre
Früher pflegten manche Leute zu sagen: „Hätte Gott gewollt, daß der Mensch fliegen kann, so hätte er ihm Flügel verliehen.“ Heute können wir sagen: „Hätte Gott gewollt, daß eine Gattung wie die unsere zu einer raumfahrenden Gattung wird, so hätte er ihr den Mond gegeben.“
Falls Sie sich jemals mit der Frage befaßt haben, wie wir beginnen sollten, würden wir auf der Venus, mit der Erde als dem nächsten Himmelskörper, leben, so haben Sie gesehen, welch große Probleme wir dann hätten. Mit dem Mond nun verfügen wir über einen Himmelskörper, der zuallererst über eine geringe Schwerkraft verfügt. Man stelle sich einen Trabanten mit der sechsfachen Erdschwerkraft vor: die Astronauten würden beim Ausstieg aus dem Landefahrzeug zusammenbrechen. Zweitens sind die Bedingungen auf der Mondoberfläche, bei aller Anerkennung der Unterschiede, den Bedingungen aller anderen zugänglichen Oberflächen, etwa Merkur, Mars oder Monde des Saturn, weit ähnlicher als die Umwelt der Erdoberfläche. Um ein populäres Lied zu benutzen: „New York, New York: Wenn du es hier schaffst, so schaffst du es überall.“ Der Mond gibt uns die Gelegenheit, die Technologie, die Wissenschaft, die Soziologie zu entwickeln, die uns in die Lage versetzt, weiter hinaus in das Sonnensystem vorzudringen.
Damit will ich nicht sagen, daß wir warten sollten, hundert Jahre lang den Mond entwickeln, bevor wir neue Unternehmen beginnen. Mit dem Mond verfügen wir über ein Testfeld, das uns für die nächsten 25 Jahre oder 50 bis 60 Jahre genau vor unserer Haustür die Möglichkeit gibt, Dinge auszuprobieren und zu überprüfen, sie durchzuleben und zu verbessern. Unternehmen wir dann lange interplanetare Missionen, so verfügen wir über Erfahrungen und eine reiche Datenbasis. Auf dem Mond werden wir Kernkraftwerke entwickeln, die wir später auf anderen Welten einsetzen. Wir werden dort Wohnsiedlungen entwickeln und Verfahren zur Gewinnung von Rohstoffen.
Damit gibt uns der Mond, nur zwei bis drei Tage von uns entfernt, Möglichkeiten, die uns kein anderer Himmelskörper bieten könnte. Wir verfügen praktisch über die gesamte Technologie, um zum Mond und zurück zu fliegen. Wir verfügen über den dafür erforderlichen Sauerstoff/Wasserstoff-Antrieb, der besonders günstig ist, wenn wir beginnen, die Sauerstoffvorkommen des Mondes auszubeuten. Wir sollten endlich einsehen, daß wir nicht nur ewig die Infrastruktur entwickeln können – eines Tages müssen wir etwas mit ihr anfangen!
Wir führen in der Welt; wir besitzen das beste Raumtransportsystem, wir werden die beste Raumstation haben, und dann werden wir mit der Arbeit beginnen. Würden wir uns jetzt auf den Flug zu einem anderen Planeten konzentrieren, müßten wir zunächst ein neues Antriebssystem entwickeln. Denn es macht wenig Sinn, auf dem Zahnfleisch zum Mars zu gehen, nach 180 Tagen anzukommen und für acht dort Tage zu bleiben und dann wieder zurückzufliegen. Doch mit dem Mond haben wir die Möglichkeit, das zu nehmen, was wir haben, und es anzuwenden.
Wir wissen bereits so viel über den Mond. Wir haben Erfahrungswerte aus physiologischen Experimenten, durchgeführt an Mitgliedern der Apollobesatzungen. Wir wissen jetzt, daß 1/6 g in Ordnung ist und es nicht erforderlich ist, über l g zu verfügen…
Tabelle 1:
Rohstoffgehalt von
Erd- und Mondgestein
Die Werte der Tabelle zeigen gewisse Trends, geben aber nicht das ganze Bild. Zum Beispiel kann der Wasserstoffgehalt in den Felsschichten an der Oberfläche bis zu 120 Gramm pro Tonne betragen, während er in den tieferen Basaltschichten der Mare praktisch nicht vorhanden ist.
Die Elemente sind oxidiert und kommen als mineralische Verbindung im wesentlichen in drei Arten von Mondgestein vor, die alle Magmagesteine sind: im Basalt der Mare, und dem Anorthosit und Norit (Gabbro) der Hochländer.
Das Mondgestein kommt in feiner Form, als Felsschotter (Brekzien) verschiedenster Größe und als mächtiger solider Mondfels vor. Die Protonen des Sonnenwindes, die auf die ungeschützte Oberfläche treffen, erzeugen in den äußersten Oberflächenschichten einen geringen Anteil an Wasserstoff. Andere leichte Elemente von der Sonne können in winzigen Mengen eingefangen werden.
Vorkommen von Elementen im Durchschnittsgestein (in Gramm pro Tonne) |
||||
Häufigkeitsrang (Erde) | Element | Erde | Mond/Hochländer | Mond/Mare |
1 | Sauerstoff | 4,66-4,7 ∙ 105 | 4,5 ∙ 105 | 4,2 ∙ 105 |
2 | Silizium | 2,77-2,95 ∙105 | 2,1 ∙ 105 | 2,1 ∙ 105 |
3 | Aluminium | 0,81 ∙ 105 | 1,3 ∙ 105 | 0,7 ∙ 105 |
4 | Eisen | 0,47-0,5 ∙ 105 | 0,49 ∙ 105 | 1,3 ∙ 105 |
5 | Kalzium | 0,3-0,36 ∙ 105 | 1,07 ∙ 105 | 0,79 ∙ 105 |
6 | Natrium | 0,25-0,28 ∙ 105 | 3100 | 2900 |
7 | Kalium | 0,25-0,26 ∙ 105 | 800 | 1100 |
8 | Magnesium | 0,21 ∙ 105 | 0,46 ∙ 105 | 0,58 ∙ 105 |
9 | Titan | 4400-4500 | 3000-3200 | 0,3 ∙ 105 |
10 | Wasserstoff | 1400 | 55-60 | 50-55 |
11 | Phosphor | 830-1200 | 500 | 600 |
12 | Mangan | 1000 | 650-700 | 1700 |
21 | Chrom | 90-100 | 800-900 | 2500-2700 |
Wir wissen einigermaßen Bescheid über die Zusammensetzung des Mondbodens. Ich habe in einer Tabelle zusammengestellt (Tabelle 1), wieviel Mondmaterial verarbeitet werden müßte, um eine Tonne von bestimmten Elementen zu gewinnen. Um die wichtigsten Elemente wie Sauerstoff, Eisen, Silizium, Kalzium, Aluminium, Magnesium, Titan zu erhalten, müssen zwischen einer und hundert Tonnen an Rohmaterial verarbeitet werden… Insbesondere gibt es reichlich Sauerstoff auf dem Mond, der 89 Prozent des Wassers ausmacht. Hätten wir die gleiche Menge an Wasserstoff und dafür die extreme Armut an Sauerstoff, wie sie für Wasserstoff gilt, dann wäre die lunare Entwicklung immens kostspielig. Dann müßten wir zu hohen Kosten Sauerstoff zum Mond transportieren…
Fünf Phasen lunarer Entwicklung
Ich habe die Entwicklung des Mondes in fünf Stufen unterteilt:
1. Die erste Entwicklungsstufe dient der weiteren Erforschung mit unbemannten Fahrzeugen und Orbitern. Mit Shuttle und Centaur könnte dies noch in diesem Jahrhundert geschehen.
2. In der zweiten Phase ist die Errichtung eines Betriebszentrums in einer Mondumlaufbahn, eine zirkumlunare Raumstation, vorgesehen. In den neunziger Jahren, so hoffe ich, können wir bereits über ausreichende Erfahrungen mit Raumstationen in Erdnähe verfügen und die lunare Station als „Nebenzweig“ errichten. Von dieser Station aus werden sich kleine Mannschaften gelegentlich auf die Mondoberfläche begeben. Von der Erde aus werden Module direkt zum Mond geschickt – zu einem Ort, an dem die erste Basis errichtet würde. Dies könnte Mitte der zweiten Phase geschehen. An diesem Ort ließe sich auch die erste vollautomatische Fabrik zur Extraktion von Sauerstoff errichten…
3. Die dritte Entwicklungsstufe ist die erste produktive Stufe, in der die lunare industrielle Basis – ein zentraler lunarer Verarbeitungskomplex – errichtet wird. Dieser Komplex wird zuerst Sauerstoff und dann andere Materialien produzieren.
4. Da es wahrscheinlich auf dem Mond keinen Ort geben wird, wo alle mineralogenen Provinzen in unmittelbarer Nachbarschaft liegen, ist für die vierte Entwicklungsstufe die Errichtung von Zulieferstationen in Gebieten vorgesehen, wo es besonders wertvolle, vielleicht noch zu entdeckende mineralogene Vorkommen gibt – etwa mit großem Ilmenitgehalt zur Titanextraktion. Letztendlich wird man diese Stationen durch elektromagnetische Züge mit dem zentralen Komplex verbinden; zu Beginn wird man jedoch auf eine ballistische Zulieferung zurückgreifen…
5. In der fünften Entwicklungsstufe werden wir Selenopolis haben, wo Mondbevölkerung und lunare Industrie voll entwickelt sind. Der Übergang vom Mond, wie wir ihn heute kennen, zur Selenosphäre, wie sie sich den Menschen des nächsten Jahrhunderts darstellen wird, ist abgeschlossen. Und natürlich werden wir während aller fünf Phasen Entwicklungen auf der Erde, im erdnahen Weltraum, im cislunaren und im lunaren Raum haben…
Ein neues Schöpfertum
Ebenso wie die Geosphäre wird die Selenosphäre drei grundlegende Subsphären aufweisen. Erstens die Technosphäre, die alle wissenschaftlichen und technologischen Aktivitäten beinhaltet, zweitens die Biosphäre mit der Nahrungsmittelproduktion, den Umweltkontrollsystemen, Tieren, Pflanzen etc., und als drittes die Soziosphäre, der Bereich des Menschen, seines Verhaltens, der Entwicklung der Bevölkerung. Natürlich ist die Industrie die Brücke zwischen Techno- und Soziosphäre – eine einfache Brücke in der modularisierten Welt des Mondes; die lunare „Landwirtschaft“ (mit hydroponischen Verfahren) verbindet Techno- und Biosphäre.
Die Wohnsiedlungen schließen alles ein und überdecken eine Kombination aller Subsphären. Dies macht ihre Entwicklung schwierig, da hier eine nicht-modularisierte Integration notwendig ist. Menschen, Pflanzen, alle möglichen technischen Einrichtungen wie Züge, Maschinen zur Erzeugung der Umwelt und der Luft – alles müßte in einer Wohnsiedlung mehr oder weniger in einem Ganzen zusammengefügt werden. Trotz Verwendung fortgeschrittener Modularisierung wird dies ein Problem sein, und wir werden lernen müssen. In einer Raumkolonie müßte alles von vornherein festgelegt werden; in der nachsichtigeren Umwelt der Mondoberfläche, wo wir mehr Möglichkeiten, mehr Raum und mehr Notsysteme haben, lassen sich Systeme – etwa Wohnsiedlungen mit eigenem Klima für Menschen aus verschiedenen Teilen der Erde – allmählich entwickeln, verbessern und ausweiten.
Hier komme ich zu einem wichtigen Punkt – dem Menschen. Der Mond bietet uns die erste Gelegenheit sowohl für Aktivitäten zum Wohle der Erde als auch zur Entwicklung des cislunaren Raums – des Raumes zwischen Erde und Mond; vor allem aber ist er eine überwältigende Aufgabe, um unsere Vorstellungskraft, unser Schöpfertum und unsere Reife zu erproben. Wir sind das gewalttätige Produkt einer gewalttätigen Evolution auf einem gewalttätigen Planeten in einem gewalttätigen Kosmos. Nun gehen wir in das Universum hinaus, mit unserer Erbschaft von endlosen Kriegen vieler hunderttausend Jahre, den Spannungen unserer Zeit, den ideologischen, gesellschaftlichen, demographischen, religiösen und was immer noch für Feindseligkeiten und Gegnerschaften – all das ist in uns eingefroren, wie das Magnetfeld der Sonne im Sonnenwind eingefroren bleibt, wenn er in den Raum hinausweht. Mit diesem eingefrorenen Erbe gehen wir hinaus in den Weltraum, und es wird bei uns bleiben. Welchen Sinn hätte das Ganze, wenn wir doch nur von der Bombardierung von Rotterdam oder Warschau oder Hamburg, Dresden oder Tokio zur Zerstörung ganzer Planeten übergingen? Was wollen wir dort draußen? Was für eine Art von Wesen ist es, das in den Raum geht? Doch wenn wir ein atemberaubendes, großes, tiefgehendes, weiteste Bereiche der Gesellschaft umfassendes Projekt haben, wenn wir uns der Fähigkeit bewußt sind, über den Mond hinausgehen zu können, wenn wir einem neuen Schöpfertum gegenüberstehen – dem Bau neuer Welten, eine höchst positive, verbindende und die Brüderlichkeit fördernde Tätigkeit -, dann ist dies vielleicht eine Technologie, die uns hilft, zu wachsen und zu reifen und auf all die schrecklichen Dinge zu verzichten.
All unsere Albträume liegen in den Höhlen, aus denen wir einst kamen, und all unsere Hoffnungen und unsere strahlenden Gottheiten sind dort oben, dort, wohin wir gehen wollen. Wenn nicht, so ist all unsere Technologie vergebens; wir werden sie nur für das benutzten, für das wir sie immer nutzten, und wir wer den uns fragen: „Warum nur, warum all diese Mühe?“ Und der Mond: eine gelegentliche wissenschaftliche Mission, ein Forschungsprojekt, so wichtig diese auch sind – dies ist nicht genug! Wir müssen weiter gehen!